„Wie entwickelt sich die Gesundheit von Menschen? Dies ist das Geheimnis, das die salutogenetische Orientierung zu enträtseln versucht.“ (Aaron Antonovsky, S. 16)
„In der Wissenschaft ist die Frage immer wichtiger als eine auf sie gegebene Antwort.“ (S. 30)
Wissenschaft beginnt mit Fragen. Fragen führen zu neuen Erkenntnissen.
Mit der Wortschöpfung Salutogenese (lat. salus = Gesundheit, Heil, Glück und griech. génesis = Entstehung, Entwicklung) hat der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe und Stressforscher Aaron Antonovsky (1923-1994) in den 70er Jahren die Frage nach der Entstehung von Gesundheit, nach einer gesunden Entwicklung des Menschen in die moderne Wissenschaft gebracht. Der Begriff ist analog und komplementär gebildet zu dem Begriff Pathogenese (griech. páthos = Schmerz, Leid), der die Lehre der Entstehung von Krankheit bezeichnet.
Die Fragestellung der Salutogenese beinhaltet die Frage, wie ein Organismus es schafft, entgegen dem Entropiesatz der Physik gesund zu wachsen, sich zu entwickeln und zu vermehren – also eine dynamische, aufeinander abgestimmte Ordnung (= Kohärenz) herzustellen. Auch Antonovsky nahm schon 1987 an, dass es zu einem großen Sprung vorwärts in der Wissenschaft der Salutogenese kommen wird, wenn es weiterführende Antworten auf die Frage nach der Entstehung von Ordnung aus Chaos geben wird (die Chaosforschung war damals noch sehr am Beginn).
„Warum bewegen Menschen sich auf den positiven Pol des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums zu, unabhängig von ihrer aktuellen Position?“ (Antonovksy 1997, S. 15)
Diese entscheidende Frage stellte der Medizinsoziologe und Stressforscher Antonovsky angesichts einer vergleichenden Untersuchung von Frauen im Klimakterium (= Wechseljahre), die den Holocaust im KZ überlebt hatten: “. … bedenken Sie, was es bedeutet, dass 29 Prozent einer Gruppe von Überlebenden des Konzentrationslagers eine gute psychische Gesundheit zuerkannt wurde. (Die Daten zur physischen Gesundheit erzählen dieselbe Geschichte.).
Den absolut unvorstellbaren Horror des Lagers durchgestanden zu haben, … und dennoch in einem angemessenen Gesundheitszustand zu sein! Dies war für mich die dramatische Erfahrung, die mich bewusst auf den Weg brachte, das zu formulieren, was ich später als das salutogenetische Modell bezeichnet habe…“. So Aaron Antonovsky über den Beginn des Weges zur Frage der Salutogenese.
Er hat diese Frauen, die den Holocaust gesundheitlich gut überstanden haben, intensiv befragt, um herauszufinden, was sie zu dieser Stressbewältigung befähigt hat. Dabei hat er folgende Erkenntnisse gewonnen:
Als zentralen Faktor für ihre Gesundheit hat Antonovsky den „sense of coherence SOC“ gefunden, was in der deutschsprachigen Literatur meist mit ‚Kohärenzgefühl’, seltener mit ‚Kohärenzsinn’ oder ‚Kohärenzempfinden’ übersetzt wird.
Er definiert den „sense of coherence SOC“ als „… globale Orientierung … eines dynamischen wie beständigen Gefühls des Vertrauens…“ (im Deutschen entspricht diese Definition in etwa einem überpersönlichen ‚Urvertrauen‘). Dieses setzt sich nach Antonovsky aus drei Komponenten zusammen:
1. Verstehbarkeit (comprehensibility)
2. Gefühl von Bedeutsamkeit oder Sinnhaftigkeit (meaningfulness)
3. Handhabbarkeit (manageability)
Sein „Konzept des Kohärenzgefühls“ verstand er „als Kern der Antwort auf die salutogenetische Fragestellung“ (Antonovsky, S.30).
Antonovsky wollte mit seinem Salutogenese-Modell die Dichotomie (Zweiteilung) von Gesundheit und Krankheit überwinden. Er sieht Menschen aktiv zwischen den Polen Krankheit und Gesundheit – gleichzeitig sowohl krank als auch gesund – als „Schwimmer im Fluss des Lebens“. Jeder Organismus ist ständig aktiv zur Herstellung von Gesundheit. Dabei spricht er öfter von „mehrdimensionaler Gesundheit“ und öffnet damit den Blick für verschiedene Dimensionen des Lebens (Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit; DGVT-Verlag, 1997).
Oft werden die pathogenetische und salutogenetische Sichtweise ideologisch als gegensätzlich oder alternativ gegenüber gestellt. Das entspricht der von Antonovskykritisierten Dichotomie (Zweiteilung) von krank und gesund. Dabei ist offensichtlich, dass die Grundlage des Lebens die gesunde Entwicklung, die Salutogenese ist, die durch Krankheiten bzw. deren Abwendung/Vermeidung ergänzt und auch ermöglicht wird.
Wenn man von einer salutogenetischen Sichtweise und so von einer gesunden Entwicklung ausgeht, erscheint die Entstehung einer Erkrankung in einem anderen Licht als wenn man von vornherein ausschließlich von einer Vermeidung und Bekämpfung ausgeht. Z. B. wird dann auch nach der Bedeutung einer Erkrankung im aktuell individuellen Lebenskontext gefragt und nach den eigenen Aktivitäten sowie den äußeren Bedingungen, die eine gesunde Entwicklung ermöglichen.
So wird eine pathogenetische Lehre erst richtig sinnvoll auf dem Hintergrund der Salutogenese.
Wenn man sein Denken, Forschen und Handeln allerdings ausschließlich pathogenetisch orientiert und die Grundlagen gesunder menschlicher Entwicklung gänzlich aus den Augen verliert, wie es z. Zt. bei großen Teilen der Schulmedizin der Fall ist, dann besteht die Gefahr, dass man sich gegen die gesunde Entwicklung der Menschen richtet und selbst Krankheiten produziert.
Neuropsychologisch ist das so zu verstehen, dass einseitig Abwendungs-/Vermeidungsziele angeregt werden und damit das Abwendungs-/Vermeidungssystem und damit Ängste aktiviert werden, welches dann positiv motiviertes und sinnvolles Annäherungsverhalten hemmt. Die Folge sind Stresserkrankungen und Depression.
Deshalb widmen wir uns hier explizit der Salutogenese, um die Grundlagen gesunder menschlicher Entwicklung wieder und neu ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Wir wollen diese gesunde Entwicklung, die Salutogenese, verstehen und erfassen, um damit das Annäherungsverhalten an Gesundheit zu aktivieren. Als erwünschte Nebenwirkung finden wir ein neues Verständnis zur Entstehung, Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten.
„In den letzten Jahren haben sich – auch von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit unbemerkt – einige grundlegende Paradigmenwechsel vollzogen, die damit zusammenhängen, dass die Physik als Leitwissenschaft der Naturwissenschaften allmählich abgelöst wird durch Biologie und Medizin. Das lässt sich, im weitesten Sinne, unter dem Stichwort Chaostheorie zusammenfassen.“
So der Chemiker und Mikrobiologe Prof. Dr. Friedrich Kramer, der bis 1995 Direktor des Max-Planck-Instituts für experimentelle Medizin in Göttingen war und an der Genforschung seit Beginn in den 50iger Jahren beteiligt war (1997).
Schon Antonovsky hatte postuliert, dass das Salutogenese-Konzept dann zu weiterer Blüte kommen wird, wenn mehr Klarheit über die Gesetzmäßigkeiten gefunden wird, wie aus Chaos Ordnung entsteht, wie also aus der scheinbar chaotischen Unendlichkeit biochemischer Möglichkeiten und Vorgänge die hohe dynamische und komplexe Regelung unseres Organismus entsteht.
Aus heutiger Sicht – 16 Jahre später – könnte man ergänzen, dass zur Biologie und Medizin auch die anderen Lebenswissenschaften wie Psychologie und Soziologie gehören. Dass der Zukunft die Integration der Lebenswissenschaften gehört, die es verstehen, auch die Physik und Chemie zu integrieren – sozusagen als Bausteine des Lebens.
Die Fragestellung der Salutogenese inkludiert alle Wissenschaften. Sie braucht alle Wissenschaften, um umfassende Antworten auf die so einfache Frage zu bekommen: Wie können Menschen sich gesund entwickeln? Die Fragestellung ist gleichzeitig eine übergeordnete Frage für alle Gesundheits-/Lebenswissenschaften und führt somit auch zu einer gemeinsamen ‚Meta-Theorie‘.(s.a. download-pdf: Petzold: Beitrag zur Meta-Theorie für Gesundheitsberufe)
Allerdings zeigen die aktuellen Ausbildungscurricula an den Universitäten, die Fachliteratur, die den Mainstream abbildet sowie viele Diskussionen in unterschiedlichsten Fachkreisen, dass die Mainstream-Denkmuster sich noch in den Kreisen des vor- und letzten Jahrhunderts bewegen, einerseits in schwarz-weiß-färbenden Idealismen und andererseits in ausschließlich materialistischen Kausalitäten. Deshalb bemühen wir uns um ein „Neues Denken“, das schon Albert Einstein gefordert hat, um die anliegenden Probleme zu lösen. Es gilt, zu einem Teil der Lösung zu werden anstatt ein Teil des Problems zu bleiben.
„Daher ist es die Aufgabe, nicht sowohl zu sehen, was noch keiner gesehen hat, als bei dem, was jeder sieht, zu denken, was noch keiner gedacht hat.“ Schopenhauer (zit. n. Bertalanffy, S.15)
Dafür halten wir drei Aspekte für besonders wichtig, drei Wege zur Annäherung, auf denen auch eine Integration der Einzelwissenschaften stattfindet. Diese drei Wege werden im Folgenden skizziert:
1. Die Frage nach der Dynamik gesunder Entwicklung
2. Eine Betrachtung der systemischen Beziehungen
3. Die Rolle von Kooperatoin und Kommunikation
In vielen Diskussionen haben sich für eine 'salutogenetische Orientierung' folgende sieben Kriterien herauskristallisiert. Eine Arbeit für Gesundheit ist dann ‚salutogenetisch orientiert’ wenn sie
1. An Stimmigkeit, Kohärenz, aufbauender Kooperation und Kommunikation orientiert ist. Das Streben nach Kohärenz ist ein übergeordnetes - wahrscheinlich allen Lebewesen innewohnendes Prinzip, das dafür sorgt, dass sich Lebewesen aus dem Chaos entgegen den physikalischen Gesetzen der Entropie komplex und gesund organisieren können.
2. Auf Gesundheit (attraktive Ziele, Vorstellungen) ausgerichtet ist. D. h. die Arbeit richtet sich primär nicht am Kampf gegen Krankheiten und Risikofaktoren aus, sondern an attraktiven Gesundheitszielen, wie z.B. Wohlbefinden, Sicherheit, Lust, Lebensqualität, Freude, Fitness, Sinnerfüllung, Weisheit und ähnlichem.
3. Ressourcenorientiert ist.
D.h. dass man primär nicht nach Defiziten, Störungen, Blockaden usw. sucht, sondern nach eigenen Fähigkeiten und auch Unterstützung - allen Quellen von Wohlbefinden, für Eigenaktivität, Motivation usw.
4. Das Subjekt wertschätzt.
D.h. nicht versucht, das Individuum in eine Norm zu pressen. Die Pathologie geht von Normen (Normalwerten) aus. Die salutogenetische Orientierung erkennt mit dem Subjekt auch das Subjektive an, die Selbstwahrnehmung, Gefühle, individuelle Gesundheitsziele, subjektive Krankheits- und Gesundheitstheorien, fragt nach subjektiven Deutungen und Bewertungen.
5. Dynamisch prozess-/lösungsorientiert ist auf Entwicklung und Evolution sowie auf (Selbst-) Regulation.
Die salutogenetische Sichtweise geht von einem Lebensprozess aus, der bisweilen in Krankheitssymptome und dann wieder in Genesung und Kreativität regulieren kann. Das Bild des Schwimmens im Fluss des Lebens hat Aaron Antonovsky für die salutogenetische Sichtweise geprägt.
6. Aufmerksamkeit für systemische/kommunikative Selbstorganisation und -regulation hat und individuelle, soziale, kulturelle und globale Kontextbezüge einbezieht.
Die Selbstregulation und Selbstheilungsfähigkeit eines Menschen wird mehrdimensional in seinen familiären, gemeinschaftlichen, kulturellen, globalen sowie auch universellen Bezügen gesehen. Auch soziokulturelle Prozesse werden als selbstregulativ verstanden.
Für diese Selbstregulation sind sowohl innere Sollwerte (Attraktoren) als auch äußere Bedingungen (Kontexte) maßgeblich. Es kommen aber nur selten lineare Ursache-Wirkungs-Prozesse vor.
Der Mensch wird vorwiegend nicht als Opfer von medizinischer Manipulation und Machbarkeit gesehen, sondern als ein sich letztendlich autonom regulierendes System in einem größeren System. Dazu gehört eine Haltung des Unwissenden, Neugierigen und Demütigen.
7. Die alte dichotome Sichtweise von entweder krank oder gesund erweitert durch die Erkenntnis, dass im Lebensprozess immer beides vorhanden ist: sowohl Krankheit als auchGesundheit. Allgemein werden meist mehrere Möglichkeiten in Betracht gezogen - es wird 'sowohl-als-auch' gedacht (nur selten: entweder oder).
Diese sieben ‚Qualitätskriterien’ salutogenetischer Orientierung sind noch keine endgültigen Größen – vielleicht können sie ein Ausgangspunkt für die weitere Diskussion um die Salutogenese sein, die wir auch hier weiter führen wollen und zu der wir alle Interessierten einladen.
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